GLÛMRA
Hunderte
Fuß unter Tronjheim öffnete sich der Fels zu einer riesigen Höhle
mit einem unergründlichen schwarzen See, den ein marmornes Ufer
säumte. Wasser tropfte von bräunlichen und elfenbeinfarbenen
Stalaktiten an der Decke auf Stalagmiten am Boden herunter. Wo sie
zusammentrafen, bildeten sie Säulen, die dicker waren als selbst
die größten Bäume in Du Weldenvarden. Zwischen den Säulen türmten
sich von Pilzen übersäte Komposthaufen neben niedrigen rechteckigen
Steinhütten. Flammenlose Laternen glühten eisenrot neben den Türen.
Außerhalb ihrer Lichtkegel herrschte tiefste Finsternis.
Eragon saß in einer der Hütten auf einem für
ihn viel zu kleinen Stuhl an einem Granittisch, der ihm bis zu den
Knien reichte. Der Geruch von Ziegenkäse, Pilzen, Hefe, Eintopf,
Taubeneiern und Kohlenstaub war allgegenwärtig. Ihm gegenüber saß
Glûmra, eine Zwergenfrau aus der Familie Mord und Mutter Kvîstors,
des ermordeten Wachsoldaten. Sie beklagte den Tod ihres Sohns, riss
sich an den Haaren und schlug sich mit den Fäusten gegen die Brust.
Ihre Tränen hatten glitzernde Spuren auf den Wangen ihres runden
Gesichts hinterlassen.
Die beiden waren allein in der Hütte. Seine
vier Wachen - Thrand, ein Krieger aus Oriks Gefolge, hatte Kvîstors
Platz eingenommen - warteten mit dem Dolmetscher Hûndfast draußen.
Er hatte den Zwerg hinausgeschickt, nachdem er erfahren hatte, dass
Glûmra seine Sprache beherrschte.
Nach dem Mordanschlag hatte Eragon seinen
Geist ausgeschickt und Verbindung zu Orik aufgenommen. Der hatte
darauf bestanden, dass Eragon sich zum Schutz vor weiteren
Meuchelmördern so rasch wie möglich in die Räume des Ingietum
flüchtete. Er hatte sich Oriks Willen gebeugt und dort auf ihn
gewartet, während der Grimstborith die Clan-Versammlung gezwungen
hatte, sich auf den nächsten Morgen zu vertagen, weil ein Notfall
beim Ingietum seine sofortige Aufmerksamkeit erfordere. Danach war
Orik mit seinen tapfersten Kriegern und einem sehr fähigen Magier
zum Schauplatz des Hinterhalts marschiert, den sie mit gewöhnlichen
und magischen Methoden untersuchten und die Ergebnisse
protokollierten. Sobald Orik überzeugt war, dass sie alles erfahren
hatten, was zu erfahren war, kehrte er in seine Gemächer
zurück.
»Wir haben sehr viel zu tun«, teilte er
Eragon mit, »und nur wenig Zeit. Bevor die Clan-Versammlung morgen
früh zur dritten Stunde ihre Beratungen fortsetzt, müssen wir
zweifelsfrei nachweisen können, wer für diesen Hinterhalt
verantwortlich war. Gelingt uns das, haben wir ein Druckmittel
gegen die Schuldigen in der Hand. Wenn nicht, tappen wir weiter im
Dunkeln, ohne zu wissen, wer unsere Feinde sind. Wir können dieses
Attentat höchstens bis zur Clan-Versammlung geheim halten. Knurlan
in den Tunneln unter Tronjheim werden die Echos der Kampfgeräusche
gehört haben. Bestimmt fahnden sie bereits nach der Ursache des
Lärms, schon aus Angst, dass ein Stollen eingestürzt ist oder sich
eine andere Katastrophe ereignet hat, die die Stadt darüber
gefährden könnte.« Orik stampfte mit dem Fuß auf und verfluchte die
Ahnen der Drahtzieher dieses Überfalls. Dann stemmte er die Fäuste
in die Hüften. »Uns hat schon vorher ein Clan-Krieg gedroht, aber
jetzt steht er direkt an unserer Türschwelle. Wir müssen schnell
handeln, wenn wir dieses grauenvolle Verhängnis abwenden wollen.
Wir müssen Knurlan aufspüren, Fragen stellen, bedrohen, bestechen,
Schriftrollen stehlen... und das alles noch vor morgen früh.«
»Und was soll ich tun?«, erkundigte sich
Eragon.
»Du solltest hierbleiben, bis wir wissen, ob
der Az Sweldn rak Anhûin oder ein anderer Clan irgendwo eine
größere Streitmacht versammelt hat, um dich zu töten. Je länger wir
vor deinen Feinden geheim halten können, ob du tot, lebendig oder
verletzt bist, desto länger lassen wir sie im Unklaren darüber, wie
sicher der Fels unter ihren Füßen ist.«
Zunächst hatte Eragon Oriks Vorschlag
zugestimmt. Aber als er zusah, wie der Zwerg Befehle gab, wuchsen
seine Unruhe und Hilflosigkeit. Als Orik vorbeilief, packte er ihn
am Arm. »Wenn ich noch länger hier herumsitzen und die Wände
anstarren muss, während du die Übeltäter suchst, beiße ich mir die
Zähne bis aufs Zahnfleisch herunter. Ich muss doch irgendwas tun
können, um zu helfen... Was ist zum Beispiel mit Kvîstor? Lebt
seine Familie in Tronjheim? Hat jemand seine Angehörigen
benachrichtigt? Wenn nicht, möchte ich ihnen die Nachricht
überbringen, denn er hat sein Leben gegeben, um mich zu
verteidigen.«
Orik befragte die Wachen und erfuhr, dass
Kvîstor tatsächlich Familienangehörige in, oder besser gesagt,
unter Tronjheim hatte. Als er das hörte, runzelte Orik die Stirn
und murmelte ein Wort in der Sprache der Zwerge. »Es sind
Tiefschürfer«, erklärte er. »Knurlan, die die Welt des Lichts für
ein Leben in der Tiefe aufgegeben haben und nur sehr selten nach
oben gehen. Hier unter Tronjheim leben mehr von ihnen als irgendwo
sonst, weil sie im Farthen Dûr nach oben kommen können, ohne
wirklich das Gefühl zu haben, im Freien zu sein. Das ertragen die
meisten nicht, weil sie so daran gewöhnt sind, von allen Seiten von
Stein umgeben zu sein. Ich wusste nicht, dass Kvîstor zu ihnen
gehörte.«
»Hast du etwas dagegen, dass ich seine
Familie aufsuche?«, fragte Eragon. »Von diesen Räumen führt eine
Treppe in die Tiefe, nicht wahr? Ich könnte sie benutzen, ohne dass
jemand davon erfährt.«
Orik dachte einen Moment nach und nickte
dann. »Du hast recht. Der Weg ist sicher und keiner würde bei den
Tiefschürfern nach dir suchen. Sie würden zuerst hierherkommen, wo
du sonst ja auch wärst. Geh, und komm erst zurück, wenn ich dich
benachrichtigt habe. Selbst wenn die Familie von Mord dich abweist
und du bis morgen früh auf einem Stalagmiten hocken musst. Aber sei
vorsichtig, Eragon. Die Tiefschürfer bleiben meistens unter sich
und haben ein extrem empfindliches Ehrgefühl. Außerdem pflegen sie
merkwürdige Sitten. Also setze deine Schritte mit Umsicht, als
würdest du dich über porösen Schiefer bewegen.«
Und so steckte sich Eragon ein kurzes
Zwergenschwert in den Gürtel und ging in Begleitung seiner Wache
und des Dolmetschers Hûndfast zur nächsten Treppe, um tiefer als
jemals zuvor in die Eingeweide der Erde hinabzusteigen. Bald darauf
fand er Glûmra und berichtete ihr von Kvîstors Tod. Jetzt saß er da
und hörte ihr zu, wie sie um ihr ermordetes Kind trauerte und dabei
ein unheimliches, misstönendes Zwergenlied sang, das immer wieder
von Schluchzern unterbrochen wurde.
Die Tiefe ihrer Trauer machte Eragon
verlegen. Er wandte den Blick von ihrem Gesicht ab und betrachtete
lieber einen grünen Stuhl aus Speckstein, der an einer Wand stand
und mit abgegriffenen Ornamenten geschmückt war, oder den
grünbraunen Teppich vor dem Ofen, das Butterfass in der Ecke und
die Vorräte, die von den Deckenbalken hingen. Schließlich musterte
er den Webstuhl aus schwerem Holz, der unter einem runden Fenster
mit lavendelfarbenen Scheiben stand.
Als Glûmras Wehklagen seinen Höhepunkt
erreicht hatte, stand sie auf, ging zur Arbeitsplatte und legte
ihre Hand auf das Schneidebrett. Ihre Blicke trafen sich. Bevor er
sie daran hindern konnte, nahm sie ein Küchenmesser und schnitt
sich das erste Glied des kleinen Fingers ab. Sie stöhnte auf und
sank zu Boden.
Eragon stieß unwillkürlich einen Schrei aus
und sprang auf. Er fragte sich, welcher Wahnsinn über die
Zwergenfrau gekommen war und ob er sie zurückhalten sollte, damit
sie sich nicht noch mehr Verletzungen zufügen konnte. Er wollte ihr
schon anbieten, die Verletzung mit Magie zu heilen, als ihm Oriks
mahnende Worte über die seltsamen Sitten und den strengen
Ehrenkodex der Tiefschürfer einfielen. Sie könnte es als eine Beleidigung
auffassen, sagte er sich. Also schloss er den Mund wieder
und sank auf den viel zu kleinen Stuhl zurück.
Nach einer Minute richtete sich Glûmra auf,
holte tief Luft, reinigte dann ruhig das Ende ihres verletzten
Fingers mit Branntwein, schmierte eine gelbe Salbe darauf und
bandagierte die Wunde. Ihr Mondgesicht war immer noch blass von dem
Schock, als sie sich auf den Stuhl gegenüber von Eragon setzte.
»Ich danke dir, Schattentöter, dass du mir die Nachricht vom
Schicksal meines Sohnes selbst überbracht hast. Es macht mich froh,
dass er einen Ehrentod gestorben ist, wie es einem Krieger
geziemt.«
»Er war sehr tapfer«, erwiderte Eragon. »Er
sah, dass unsere Widersacher so schnell wie Elfen waren, und hat
sich trotzdem vor mich geworfen, um mich zu beschützen. Sein Opfer
hat mir genug Zeit verschafft, ihren Dolchen zu entkommen, und mir
außerdem die tödlichen Zauber offenbart, mit denen ihre Waffen
belegt waren. Ohne ihn wäre ich jetzt wohl kaum hier.«
Glûmra nickte langsam mit gesenktem Blick
und strich sich das Kleid glatt. »Weißt du, wer für diesen Angriff
auf unseren Clan verantwortlich ist, Schattentöter?«
»Bisher haben wir nur einen Verdacht.
Grimstborith Orik versucht gerade, die Wahrheit
herauszufinden.«
»Waren es die Az Sweldn rak Anhûin?« Eragon
versuchte, seine Überraschung über Glûmras Scharfsinn nicht allzu
unverhohlen zu zeigen. Als er schwieg, fuhr die Zwergenfrau fort:
»Wir alle wissen von ihrer Blutfeindschaft mit dir, Argetlam. Jeder
Knurla in diesen Bergen weiß davon. Einige von uns haben ihre
Feindseligkeit dir gegenüber mit Wohlwollen betrachtet, aber wenn
sie wirklich geglaubt haben, dass sie dich einfach ermorden können,
haben sie die Stimmung unter uns völlig falsch eingeschätzt und
sich damit ins Verderben gestürzt.«
Eragon hob interessiert eine Braue. »Ins
Verderben? Wieso?«
»Du hast Durza getötet, Schattentöter, und
uns damit geholfen, Tronjheim und die Höhlen darunter vor
Galbatorix zu bewahren. Solange Tronjheim steht, wird unser Volk
das niemals vergessen. Außerdem hat es sich durch die Tunnel bis zu
uns herumgesprochen, dass dein Drache Isidar Mithrim heilen
will.«
Eragon nickte.
»Das ist gut, Schattentöter. Du hast viel
für unser Volk getan, und welcher Clan auch immer dich angegriffen
hat, wir werden uns gegen ihn wenden und diese Tat rächen.«
»Ich habe es vor Zeugen geschworen«,
antwortete Eragon, »und ich schwöre es auch vor dir, dass ich die
Drahtzieher hinter diesem heimtückischen Attentat bestrafen werde.
Wer es auch war, er wird sich wünschen, er hätte seine böse Tat nie
begangen. Aber...«
»Danke, Schattentöter.«
Eragon neigte zögernd den Kopf. »Aber wir
dürfen nichts tun, was einen Clan-Krieg entfesseln könnte. Nicht
jetzt. Wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann sollte Grimstborith
Orik entscheiden, wann und wo wir unsere Schwerter zücken, findest
du nicht?«
»Ich werde über deine Worte nachdenken,
Schattentöter«, antwortete Glûmra. »Orik ist...« Die Worte blieben
ihr im Hals stecken. Die schweren Lider senkten sich, sie sackte
auf dem Stuhl nach vorn und presste die verstümmelte Hand gegen den
Bauch. Als der Anfall vorüber war, zog sie sich an der Tischkante
hoch, legte den Handrücken auf ihre Wange und schwankte. »Oh mein
Sohn«, stöhnte sie. »Mein wunderschöner Sohn.«
Sie trat um den Tisch herum und taumelte zu
einigen Schwertern und Äxten, die an der Wand hinter Eragon hingen,
direkt neben einer Mauernische, die ein roter Seidenvorhang
verbarg. In seiner Angst, Glûmra könne sich weitere Verletzungen
zufügen wollen, sprang Eragon auf und warf dabei den Eichenstuhl
um. Er streckte schon die Hand nach ihr aus, bemerkte jedoch im
letzten Moment, dass sie zu dem Alkoven und nicht zu den Waffen
trat. Blitzschnell zog er den Arm zurück, um sie nicht zu
beleidigen.
Die Messingringe, die den Vorhang hielten,
klirrten, als die Zwergin ihn zur Seite schob und ein tiefes,
dunkles Regal enthüllte, in das Runen und Formen eingeschnitzt
waren, so verschlungen und filigran, dass Eragon sie Stunden hätte
anstarren können, ohne sie ganz zu erfassen. Auf dem untersten
Regalbrett standen Statuen der sechs wichtigsten Zwergengötter
sowie von neun anderen, die er nicht kannte. Bei allen waren
Gesichtszüge und Pose überzeichnet, um die jeweilige Persönlichkeit
zu verdeutlichen.
Glûmra zog ein Amulett aus Gold und Silber
aus ihrem Mieder, küsste es und presste es gegen die Kehle, bevor
sie sich vor die Nische kniete. Ihre Stimme hob und senkte sich in
den fremdartigen Motiven der Zwergenmusik, als sie ein Klagelied in
ihrer Muttersprache anstimmte. Eragon traten Tränen in die Augen.
Glûmra sang eine Weile, bis sie schließlich verstummte und die
Statuen anblickte. Dabei glätteten sich die tiefen Falten ihres
gramverzerrten Gesichts und an die Stelle der Wut, Trauer und
Verzweiflung traten Schicksalsergebenheit und erhabene
Gelassenheit. Ihre Züge schienen sanft zu schimmern. Glûmras
Veränderung war so vollkommen, dass Eragon sie fast nicht mehr
erkannt hätte.
»Heute Nacht«, sagte sie, »wird Kvîstor in
Morgothals Halle speisen. Das weiß ich.« Sie küsste das Amulett
erneut. »Ich wünschte, ich könnte mit ihm das Brot brechen,
zusammen mit meinem Gemahl Bauden, aber es ist noch nicht an mir,
in den Katakomben von Tronjheim zu ruhen, und Morgothal lässt
niemanden ein, der vor seiner Zeit kommt. Doch schon bald wird
unsere Familie wieder vereint sein, einschließlich all derer, die
vor uns waren, seit Gûntera die Welt aus Dunkelheit erschaffen hat.
Das weiß ich.«
Eragon kniete sich neben sie. »Woher weißt
du das?«, fragte er mit belegter Stimme.
»Ich weiß es, weil es so ist.« Mit langsamen
und respektvollen Bewegungen berührte Glûmra die Füße der
Götterstatuen mit den Fingerspitzen. »Wie könnte es anders sein? Da
die Welt sich ebenso wenig selbst erschaffen haben kann wie ein
Schwert oder ein Helm und da nur Wesen mit göttlicher Macht die
Erde und den Himmel zu schmieden vermochten, müssen wir bei den
Göttern nach Antworten suchen. Ihnen vertraue ich, dass sie die
Geschicke der Welt leiten, und dieses Vertrauen befreit mich von
der Last meines Fleisches.«
Sie sprach mit solcher Überzeugung, dass
Eragon plötzlich das Bedürfnis verspürte, ihren Glauben zu teilen.
Er sehnte sich danach, alle Zweifel und Ängste von sich zu werfen,
um zu glauben, dass das Leben nicht nur ein Chaos war, wie
schrecklich die Welt manchmal auch sein mochte. Er wollte die
Gewissheit haben, dass er nicht einfach aufhörte zu existieren,
wenn ein Schwert ihm den Kopf abschlug, sondern dass er eines Tages
mit Brom, Garrow und allen anderen, die ihm wichtig gewesen waren
und die er verloren hatte, wieder vereint wäre. Eine verzweifelte
Sehnsucht nach Hoffnung und Trost durchdrang ihn und brachte seine
Welt zum Wanken.
Und doch…
Etwas hinderte ihn daran, an die
Zwergengötter zu glauben und sein ganzes Sein sowie die
Verantwortung für sein Wohlergehen an etwas zu binden, was er nicht
verstand. Auch konnte er nur schwer glauben, dass, falls es Götter
gab, die Zwergengötter die einzigen waren. Er wusste, würde er Nar
Garzhvog, ein Stammesmitglied der Nomaden oder selbst die schwarzen
Priester vom Helgrind fragen, ob ihre Götter existierten, sie
würden die Überlegenheit ihrer Gottheiten ebenso vehement
verteidigen wie Glûmra die der ihren. Woher soll ich wissen, welche Religion die wahre
Religion ist?,fragte er sich. Nur
weil jemand einem bestimmten Glauben anhängt, muss das nicht
notwendigerweise der richtige Pfad sein... Vielleicht kennt ja keine Religion die ganze Wahrheit,
sondern jede besitzt nur Bruchstücke davon, und es ist unsere
Aufgabe, diese Bruchstücke zu erkennen und zusammenzusetzen.
Möglicherweise haben aber auch die Elfen recht und es gibt gar
keine Götter. Nur, woher soll ich das wissen?
Mit einem tiefen Seufzer murmelte Glûmra
einen Satz in ihrer Sprache, stand auf und zog den Seidenvorhang
wieder zu. Eragon erhob sich ebenfalls und zuckte zusammen, als die
vom Kampf wunden Muskeln gestreckt wurden. Er folgte ihr zum Tisch
und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Die Zwergin holte zwei
Zinnbecher aus einem steinernen Schrank, nahm einen Weinschlauch
von einem Haken an der Decke und schenkte Eragon und sich ein. Sie
hob den Becher, brachte einen Trinkspruch in der Zwergensprache
aus, den Eragon nachzuahmen suchte, dann tranken sie
gemeinsam.
»Es ist gut zu wissen«, meinte Glûmra, »dass
Kvîstor weiterlebt und in diesem Augenblick in einem Gewand, das
eines Königs würdig wäre, das Festmahl in Morgothals Halle genießt.
Möge er im Dienste der Götter viel Ruhm ernten.« Sie trank einen
Schluck.
Nachdem er seinen Becher geleert hatte,
wollte sich Eragon von Glûmra verabschieden, aber die Zwergin kam
ihm zuvor: »Hast du einen Unterschlupf für die Nacht, an dem du vor
deinen Feinden sicher bist, Schattentöter?« Er erklärte ihr, dass
er sich auf Oriks Geheiß unter Tronjheim versteckt halten solle,
bis der Grimstborith ihm einen Boten schicken würde. Glûmra nickte
knapp und entschlossen. »Dann musst du mit deinen Gefährten hier
auf das Eintreffen des Boten warten, Schattentöter. Ich bestehe
darauf.« Eragon begann zu protestieren, doch sie schüttelte den
Kopf. »Ich würde niemals zulassen, dass die Männer, die an der
Seite meines Sohnes gekämpft haben, in diesen feuchten und dunklen
Höhlen schmachten, solange ich noch einen Funken Leben in den
Knochen habe. Ruf deine Gefährten herein, damit wir in dieser
düsteren Nacht feiern und speisen.«
Eragon begriff, dass es Glûmra verletzen
würde, wenn er ihr Angebot ablehnte, also holte er die Wachen und
den Dolmetscher ins Haus. Gemeinsam halfen sie Glûmra, ein Mahl aus
Brot, Fleisch und Pastete zuzubereiten. Als es fertig war, aßen,
tranken und redeten sie bis spät in die Nacht. Glûmra war besonders
lebhaft. Sie trank am meisten, lachte am lautesten und hatte immer
einen Scherz auf den Lippen. Zuerst schockierte ihr Verhalten
Eragon, doch dann sah er, dass ihr Lachen nie die Augen erreichte
und jede Fröhlichkeit aus ihren Zügen wich, wenn sie sich
unbeobachtet glaubte. Ihre Miene wurde dann traurig und still.
Diese Feier, so erkannte er, war ihre Art, ihres Sohnes zu gedenken
und gegen die Trauer anzukämpfen.
Ich habe noch nie
jemanden wie dich getroffen, dachte er, während er die
Zwergin beobachtete.
Lange nach Mitternacht klopfte jemand an die
Tür der Hütte. Hûndfast öffnete und ein Zwerg in voller Rüstung
trat ein. Er schien sich unbehaglich zu fühlen und spähte ständig
nervös zu den Türen, Fenstern und in die dunklen Ecken. Mit einigen
Sätzen in der alten Sprache wies er sich Eragon gegenüber als Oriks
Bote aus. »Ich bin Farn«, fuhr er dann fort, »Sohn von Flosi...
Argetlam, Orik bittet Euch, so schnell wie möglich zu ihm
zurückzukehren. Er hat wichtige Kunde, den heutigen Vorfall
betreffend.«
An der Tür packte Glûmra Eragons Unterarm
mit stählernem Griff, und als er in ihre schwarzen Augen blickte,
sagte sie: »Vergiss deinen Schwur nicht, Schattentöter. Lass die
Mörder meines Sohnes nicht ungestraft davonkommen!«
»Das werde ich nicht«, versprach er.